Der folgende Text ist Ergebnis der „Frage der Etikette“, die im Dojo erstmals am 14. Januar 2017 vom Trainer den Trainings-Teilnehmern gestellt wurde. In der Pause wurde um Ansichten und Meinungen dazu gebeten, um ein Stimmungsbild für die Trainerrunde, für spätere/weitere Entscheidungen. Ich hatte die Frage in der Kürze der Zeit nach meiner Einschätzung nur unzureichend beantwortet, weil nur allgemein und wenig konkret (was gut sei, was nicht). Da mich eine genauere Antwort für mich selbst interessiert, hatte ich sie später am Tag verschriftlich und (als Nebeneffekt) dem Fragesteller geschickt. Diese erste Antwort-Version sind die linksbündigen Absätze. Im Laufe der Zeit habe ich den Text dann sporadisch immer weiter ergänzt (eingerückte Absätze), zur eigenen Meinungsbildung, um Argumentationen oder Gedankengänge zu entwickeln. v.1.0: 2017-01-14 „Die Frage der Etikette.“ (linksbündige Absätze) v.2.0: Ergänzungen (eingerückte Absätze) 2017-02-19 ff. (Abs.4+6) 2017-03-23 ff. (Abs.4+5, Literatur) 2017-04-03 ff. (Abs.4+7) 2017-05-08 ff. (Abs.2) 2017-06-11 ff. (Abs.3) 2017-07-07 ff. (Literatur, Web-Ressourcen) 2017-07-17 ff. (Vorspann) 2017-09-19 ff. (Flow, SDT) 2018-06-14 (Vorspann, NB) Generischer URI/URL dieser Datei: ======================================================================= ======================================================================= Ich würde Etikette zwischen Personen und gegenüber Sachen (im weitesten Sinne) unterscheiden. NB: „Sachen im weitesten Sinne“ können/sollen hier konkret (gegenständlich) oder abstrakt (begrifflich) sein; aus dem Begriffskreis „der Sache“, um die es hintergründig geht. Für „Personen“ entscheidend ist, ob auslösende Momente für Umgangs- und Verhaltensformen um der Person(en) selbst willen sind. Also im Grunde unabhängig von Ort, Zeit, Umstand und persönlichen Unterschieden (selbst-) verständlich. Oder ob im Unterschied dazu Formen auslösende Deutung brauchen, über ideelle oder symbolische „budoistische“ Attribute, die allem (z.B. Halle = Dojo, Wand = Shomen/Kamiza) und jedem (z.B. Person = Sensei/Sempai/Kohai) zu eigen oder zugeschrieben sein können. Neben Gegenständen im eigentlichen Sinne geht es eben auch um ideellen/symbolischen Gehalt wie Rolle, Status, Rang, Bedeutung, Prinzip, Haltung, Tugend, usw. Die Formen dienen dann eher „der Sache“ des Überbaus, des Hintergrunds. Sie können folglich selbst gegenüber Personen „sachlich“ kategorisiert und motiviert sein, eine „Sache“ (der/zur Person) betreffend. Man kann die Frage der Etikette, die Dojo-kun, als einen Teil der Budo-Komponente der Kampfkünste betrachten, und somit unter den Gesichtspunkten der Ethik und Budo-Tugenden, der Erziehung, der Selbstentwicklung und -kultivierung, der Wegkünste, der ästhetischen Stimmigkeit, usw. Budo und Bushido bilden den (Interpretations-) Rahmen eines größeren Verhaltens- und Haltungskataloges. Regeln in und für Gruppen gibt es überall, mit sehr unterschiedlichen Funktionen. Etikette gegenüber Sachen (einschl. Abstrakta) aus/mit „höheren“ Absichten, bzw. diese Ansprüche selbst, reichen aber weiter. Besonders wenn sie über ein freies Angebot hinaus universalisiert und obligatorisch werden. Und ab hier halte ich es für unzureichend, nur noch über Ideen und Ideale zu sprechen, in Selbstvergewisserung des guten und richtigen Tuns. Oder einfach Notwendigkeiten oder japanische „Traditionen“ zu behaupten. Eine Gretchenfrage wäre demnach: Wie hältst Du es mit dem Budo und Bushido? Glaubensfragen sind n.m.M. berechtigt, denn „... [B]ushido ist mehr Bibel als historische Quelle und seine Interpretation hat mehr mit Theologie als mit Geschichtswissenschaft zu tun.“ {GB-2005, S.87} Ist ein zeitgemäßes Budo überhaupt möglich? Und wie könnte/sollte es aussehen, jenseits von „Japan“- und „Samurai“-Rollenspielregeln? Wie stark und zwingend ist die Verknüpfung zwischen Budo und Kampfkunst? Ist Aikido qua Definition eine Budo-Kampfkunst, und ohne dieses Element weder angemessen noch vollständig, oder überhaupt ausreichend erlernbar? Ganz zu schweigen zu meistern? Ist das dann ein individueller Weg, oder ist er nur kollektiv (und d.h. für alle „Wegbegleiter“ in und mit gleicher Form) zu begehen, um sich gegenseitig zur Kunstfertigkeit zu heben? Betrachtungen verschiedener Phasen, Zeiten und Umstände können hier ganz unterschiedliche Antworten ergeben. Durch seine doppeldeutig „religiöse/säkulare“ Erscheinungsform (und Nutzung) gibt es für Budo mehrere Zugangsarten/Sichtweisen. Auf „sakrale“ praktische Art wird Budo als regelgeformte, ritualisierte Wegkunst erlebt und gelebt. Es wird als erprobte praktische – normativ: zu praktizierende – Anleitung verstanden und behandelt. Auf „profane“ analytische Art wird Budo als Artefakt und Institution, als Narration und Funktion methodisch erforscht, je nach Fragestellung und Fachrichtung. Auf „profane“ technische Art wird Bujutsu experimentell geübt, entwickelt und angeeignet; ohne ambitionierten und zugleich ambivalenten Budo-Überbau (für Folgeanreize), weil viele Tätigkeiten – wie hier Bujutsu – in sich, „in ludus“, schon (Tätigkeits-) Anreize bilden. Letzteres zeigt die Richtung einer Alternative zum Budo auf, die zudem „in tempore“ wäre, zeitgemäß und gegenwärtig, den Bedingungen der Freizeit(en) und Moderne angemessener. Ich meine hiermit autotelische Ansätze des Flow-Erlebens und der sog. Selbstbestimmungstheorie (SDT), verfolge aber erstmal nur „profane“ Fragestellungen. Weitere Aspekte und Themen, neben „Person vs Sache“, könnten sein: i. Budo und Bushido (B&B) als „Invented Traditions“ des späten 19. Jahrhunderts; in politischer, ideologischer und religiöser Funktion, in Geschichte, Staat und Gesellschaft des sich modernisierenden Japan. B&B stehen in engem Zusammenhang zum Kaiserkult, zum Staats-Shinto, zur Ideologie des „Nationalwesens“ (Kokutai), zum Diskurs des „Japanertums“ (Nihonjinron). B&B dien(t)en der Kompensation der Fliehkräfte und Entsagungen in der Moderne in Japan, der Legitimation seiner Eliten des Wandels. Im Westen eher einer der individuellen Orientierungssuchen (im entlastend kollektiven Rahmen), als sog. Eskapismus und/oder Exotismus. B&B durchliefen mehrere Phasen der Kodifizierung, Popularisierung, Fiktionalisierung, der Hybridisierung (mit westlichen Konzepten), der Propaganda und Instrumentalisierung, der (Ent-) Ideologisierung. Mit eher negativen Wirkungen in der Geschichte des modernen Japan, nach westlichen Maßstäben. ii. Heutige Funktionen von B&B beschränken sich meist auf den inneren Diskurs, die Verfassung, und das Selbstbild der Kampfkünste. Die Wirkungen sind aber ähnlich bis gleich, nur in kleinerer Gruppe. B&B postulieren Traditionslinien für Authentizität, Kontinuität und Legitimität von Meister und Lehre, von Status und Rolle. Sie grenzen auf eine Weise ab gegenüber Kampfsport, die an die frühen Auseinandersetzungen zwischen deutschem Turnen und englischem „Sports“ erinnert. Angeblicher ethischer und pädagogischer Wert sind auch (Wett-) Kampf- und Sinnersatz, werten das eigene Tun auf. Welche Sehnsüchte, Vorstellungen, Fiktionen und Bilder werden hier bedient? iii. Nicht zuletzt haben Normensysteme (hier B&B) mikro-soziale Nebenwirkungen, eben auch in Kleingruppen. Unterscheidungskriterien bezüglich Verhaltensweisen ändern Sichtweisen auf- und Erwartungen der Mitglieder untereinander, bzw. definieren überhaupt die Zugehörigkeit, schaffen Gemeinschaft statt nur Gesellschaft. Sie machen Aufhebens um Formalien, um „‚Mätzchen‘ des Bushido“ {GB-2005, S.109}, die dem zwischenmenschlichen Umgang aufgesetzt sind. „Werte“ sind auch Bewertungen, und diese Werte sollen sich über Gesten und Symbole allen sichtbar (und kontrollierbar) machen. Sonst drohen ... was? Ab wann ist die Grenze zum Gesinnungstest erreicht, ob man Kampfkunst auch wirklich „im Geiste des Budo“ betreibe? Oder sich im Sinne klassischer Bushido-Benimmbücher {cf GB-2005, S.103} zu benehmen wisse? Es sind Blick-Regime, die sich bilden. Im Scherz: man könnte eine Forschungsarbeit schreiben; Arbeitstitel in etwa „Soziale (Neben-) Wirkungen idealisierter Budo-Projektionen in Kleingruppen, unter Berücksichtigung besonderer Mentalitätstypen.“ Es geht mir nicht darum, andere Deutungen durchzusetzen, sondern nur zu zeigen, daß man bei Betrachtung von B&B auch zu begründet anderen Schlüssen kommen kann als zu den geläufig apologetischen der Budoka. Daß eine unaufgelöste Wahl und dann tolerierte freie Wahl des Einzelnen einem „Ritenstreit“ angemessener sein kann. Es geht nicht um Deutungshoheit, sondern Deutungsausgleich oder -gleichgewicht. B&B haben problematische Seiten. Diese Festellung ist mir Grund genug, daraus keine verbindlichen Vorschriften zu machen, Deutungen (zum Befolgen) weder vorzuschreiben noch (bei Verweigerung) abzufragen. Zurückhaltung könnte deshalb ein Gebot der Ambivalenzen sein: darin, bestimmte Deutungen und daraus folgende (Verhaltens-) Vorschriften verbindlich zu machen. 1. Höflichkeit und Respekt sollten zwischen Personen selbstverständliche Umgangsformen sein. Im Rahmen einer Kampfkunst kann man das durch formelles Verhalten unterstützen und handhaben: in der Gruppe abknien und zueinander (Lehrer, Schüler) grüßen, die Verbeugungen der Partner vor, in, und nach jeder Übung. Das macht alles Sinn und ist angemessen. Die Partner mühen sich, einander gutes Aikido zu ermöglichen, mit einigen Anstrengungen des Ukemi oder „ertragen“ dazu vielleicht sogar etwas Schmerzen. Die Lehrer mühen sich, mir/uns etwas beizubringen (und schauen dabei oft genug in undeutbar reglose Gesichter). Das alles verdient Respekt, der auch angemessen gezeigt werden darf. Um das zeigen zu können, halte ich Formen für gut. 2. Wenn die Verhaltensformen und -forderungen dagegen Rangordnungen abbilden, erzeugen und erhalten, oder wenn durch kollektive Rituale oder Atem- („Kiai“) und Bewegungs-Übungen zu sehr „Gemeinschaft“ gemacht werden soll, sehe ich das kritisch bis ablehnend. Ich will Umgang auf Augenhöhe, egal mit wem und wie fortgeschritten. Und ich muß/will als Erwachsener nicht mehr Objekt von (erzieherischen) Sozialtechniken werden. Japanische Vorstellungen von Rollen- und Gemeinschaftsmodellen, die damit – im Gewand von Budo/Bushido – transportiert werden, halte ich für wenig wünschenswert. Die Gruppe (das Kollektiv) zuerst, oder der/die Einzelne (das Individuum)? Wer soll/muß sich zuerst anpassen, wessen Verhalten stößt zuerst (Veränderungen) an, löst Ängste oder Gefahren aus? Ist das Individuum gefährdeter, oder das Kollektiv? Die Ambivalenz des Budo, seine Quellen, seine Geschichte und Verwendung läßt eher ahnen, „wie jeglicher Individualismus durch Formalien, Strukturen und Gesten zum Verstummen gebracht werden kann.“ {GB-2005, S.109} Der Vorrang der Gruppe, das Sich-Einfügen des Einzelnen ist da, japanisch gedacht, nur konsequent. Ist es hier und heute auch angemessen? Oder überschreitet Harmonisierung, über Technik hinaus zum Prinzip erhoben, dabei das richtige Maß und seine kulturellen Grenzen? Wo und wann immer Budo ins Spiel kommt, wird der Raum akzeptierten Verhaltens verengt, werden Abweichungen weniger toleriert, werden Eigenarten auffällig gemacht, herausgestellt. Und es geht dann immer weniger um Kampfkunst und Üben-Können, sondern mehr um Dogmatik, Symbolik, Theatralik, Kontrolle und vermeintliche Kontroll-Verluste. Ein allgemeines Muster: der/die/das Andere ist „anders“, wir müssen vorsorglich die Regeln schärfen, damit wir (vermeintlich) bleiben und bewahren, was wir (vermeintlich) sind oder waren. Es reicht nur ein Ketzer, und die ganze Gemeinde ist – oder wird, von wem auch immer – gestraft. Wo und wer ist er? Will er, daß alle wegen ihm leiden? Ein geduldeter Abweichler, und die Saat des Verfalls der Kampfkunst-Gemeinschaft ist gesät, das große gemeinsame Ziel, „Der Weg“, kann/wird verfehlt werden. Normen erzeugen Haltungen und Handlungen, bzw. Erwartungen und Forderungen. Zugespitzt beschrieben und unterschieden: Jemand kommt zum Training. (1) Schön, ich kann mit ihm Aikido machen. Oder (2) Oh, er verneigt sich nicht beim Betreten der Halle. Er geht einen falschen Weg. Er hat den Hakama noch nicht an. Er hat keine Matten ausgelegt. Er verneigt sich nicht beim Betreten der Mattenfläche. Er schweigt nicht, sondern redet. Er interpretiert die gezeigten Techniken. Er verweigert die Gesten, die Rollen. Wenn das jeder einfach so machte? Warum dann ich, wo ich mich so bemühe? Ich kann gar kein Aikido mehr machen! Aus Machen wird Beobachten und Bewerten, wird Störung. Aus „Ich“ wird „Wir“, da ich mich mit der Gruppe identifiziere. Er ist nicht wie „wir“ ihn wollen. „Unser“ Aikido wird nicht wie „wir“ es wollen. „Wir“ wollen es aber schon früher und länger so und verlangen Anpassung. Je mehr es um die Genauigkeit und folglich die Gleichförmigkeit geht, weil es „auf die Details ankommt“, um atmosphärische oder ästhetische Stimmigkeit, um geschützte Räume herzustellen, in denen anderswo abwegiges Verhalten nicht mehr auffällt, wo nichts in Frage steht, weil alle es (fraglos) so machen ... desto mehr kann sich diese Tendenz selbst verstärken und in sich abschließen. Bis ein „Modus“ erreicht ist, der auch kleinste Abweichungen auffällig macht, bis hin zu derart erwartetem Innewerden, daß die Formalien zur inneren Haltung werden (müssen). Oder „das Ganze und Eigentliche“ für Außenstehende nicht mehr zugänglich ist, vorgeblich nicht verstanden wird. Vielleicht ist alles auch ganz anders: Budo sei „das Eigentliche“, die Budo-Weg-Gemeinschaft, die durch Regeln geschaffen wird, die Menschen und Umstände erst in ihre besondere Beziehung setzen. Kampfkunst – „Kunst“ nennt sie sich durch Anspruch und Zustand der regelgeleiteten Besonderheit – ist eigentlich nachrangig, ist darin nur eine von vielen möglichen Weg-Praktiken. Ein in diesem Fall eben gemeinsames körperliches Tun, mit befriedeten kriegerischen Wurzeln. Der Weg ist bewegt; und ist da, wo sich was bewegt. 3. Aufwärmen halte ich für körperlich wichtig, und eine gewisse „rituelle“ Gewöhnung an wiederkehrende Übungen kann dem Körper und Geist die Signale geben, die er für den Beginn von Kampfkunst-Bewegungen braucht. Das kann formelle Rituale teils ersetzen. Ich persönlich halte dabei aber große Freiheiten für die Teilnehmer für vorteilhaft, weil sie oft recht gut selbst wissen, was ihr Körper (nicht) braucht. Zumindest wäre es ein Trainingsziel, Verantwortung für sein körperliches Befinden selbst tragen und seine Nöte selbst erkennen zu können. Es sollte reichen, wenn ein Trainer die sinnvollen Angebote macht, aber Freiheit für individuelle Abweichungen und Befindlichkeiten lässt. Der pädagogische Durchsetzungs- und Gestaltungswille muß da mit Erwachsenen nicht mehr so groß sein. Das könnte (sollte?) auch bei der Lehre der Kampfkunst selbst gelten. Oder sind Kampfkunstschüler Kunstwerke des Meisters? Beim „gemeinsamen Weg von Schwert und (Einfalts-) Pinsel“ {JB-2006} darf niemand dem Künstler ins Werk pfuschen? Japanisches Lernen ist „Innewerden“ durch unbedingtes Nachahmen. Nicht hinterfragen, nicht eigenständig verändern. „Das Wesen der Übung ist die Wiederholung.“ Mein Meisterspruch #1. Die *genaue* Wiederholung, möchte mancher ergänzen. Als Trainer wollte ich weniger die Entwicklung kontrollieren und steuern, sondern vielmehr den Entwicklungen Räume geben, sie „viabel“ (gangbar, passend, brauchbar) machen. Techniken sollten nicht deshalb genau nachgemacht werden, weil ich sie so vorgemacht hatte, sondern weil sie so besser und wirksamer waren, oder lehrreicher z.B. in Bezug auf bestimmte Prinzipien oder Bewegungsmuster, auf ein Verständnis oder eine allgemeine Entwicklung, hinführend zu anderen Techniken oder Aspekten. Im individuellen Einzelfall, in spezieller Nage/Uke-Paarung, je nach Körperlichkeit oder „eigenartiger“ Ausführung, je nach Anschlußfähigkeit zu bisheriger Entwicklung, kann das Gezeigte aber auch schlechter oder unpassend sein. Dann ist es interessant, wo in dieser Versuchsanordnung die individuelle Lösung liegt. Die gilt es, im richtigen Maß, für jeden zu finden, bzw. das „Selbst-Finden“ des ihm/ihr genau passenden Aikido zu ermöglichen. Das kann die Aufforderung bedeuten, mit dem Gezeigten fortzufahren, um technische Fehler zu beheben, um eine dem Lernenden eigene vorläufige Grenze zu überwinden. Es kann bedeuten, daß Lernende *und* Lehrende ihre Vorstellungen des Besseren und Möglichen ändern. Letztlich muß jeder Lernende den nächsten Entwicklungsschritt an einen vorherigen Schritt anschließen können. Die Fähigkeit, den nächsten Schritt (und damit die Richtung) selbst wählen, zumindest probieren zu können, ist kein Affront gegen irgendwas und -wen. Jeder Lehrende macht es, mit größerer Erfahrung, schließlich auch ständig, und nimmt es für sich in Anspruch. Der Trainer muß nicht der erwählte Meister sein, der alleinige und ausschließliche Wegbereiter und Wegbegleiter; auch und sogar nicht im konkreten Training. Nicht weil es an Respekt oder Sympathie mangelt, sondern weil es eben keine Art des Umgangs ist. Dann wirkt Entwicklung in alle Richtungen; auch der Lehrende entwickelt sich an den Lernenden, ohne daß es von irgendeiner Seite als Störung empfunden wird. 4. Etikette gegenüber Sachen sehe ich distanziert, weil damit eigentlich profane Dinge symbolisch aufgeladen oder gar überfrachtet werden. Ich zähle dazu u.a. Orte/Räume, Matten, Bilder, Shomen, Schwerter, Kleidung (Hakama, z.B. wegen Rang oder Faltung), Graduierungen, Wege „wo man (nicht) hergehen darf“ usw. Die Zahl der Regeln und Formen, die man für den Umgang mit Sachen aus dem Japan- und Budo-Fundus holen kann, ist nach oben offen, eine Auswahl immer willkürlich, der (Entstehungs-) Kontext ostasiatischen Gedankenguts hier meistens nicht mehr gegeben oder unangemessen. Es ist eine Frage des richtigen Maßes. Insgesamt kommt mir sowas aber wie der Versuch vor, Entzaubertes wieder zu verzaubern; ein Reflex auf die Moderne. Werden Regeln und Formen gefordert, können die Geforderten diese formell einhalten oder liefern. Sie werden aber nicht willentlich dem Geforderten den für sie verlorenen „Zauber“, dem Profanen das Sakrale, die zusätzliche Bedeutung zurückgeben können. Sofern es nicht noch andere/weitere Funktionen (oder Interpretationen) geben soll, sind ihre außen sichtbaren Gesten demnach „hohl“ oder „leer“, also eine Art Attitüde. Ist es das, was den Tugendkatalogen und Ansprüchen der Wegkünste entsprechend gelehrt werden soll, d.h. letztlich den „bloßen“ Schein zu wahren? Was sollten die „anderen“ Funktionen/Interpretationen sein? Was könnten andere Tugenden sein? Toleranz? Individualität? Vielfalt? Urteilsfähigkeit? Richtiges Maß? Selbstbehauptung? Es gibt eben auch Geschichten vom Schlechten des Guten, des gut Gemeinten, z.B. weil man meint, nicht gut und glücklich sein zu können, solange nicht alle „wirklich“ gut und glücklich sind. Die Tribunale der Tugenden – „Du bist nicht, wie wir Dich haben wollen!“ – deren (bloße) Sichtbarkeit gefordert und gewertet wird. Oder die Geschichten von Macht und Symbolen, vom Grüßen der Geßler-Hüte. Ein Beispiel. Ich verneige mich weder vor dem Bild des Bundespräsidenten, noch salutiere ich vor der Nationalflagge. Das bedeutet im Folge- oder Umkehrschluß nicht, daß ich die Person, das Amt, das Symbol, und das damit Repräsentierte nicht respektierte. Es ist Merkmal mancher Regimetypen, daß sie stetigen Bekenntniszwang ausüben, oder wenigstens -druck. Sie fordern sichtbare Gesten, Haltungen und Zeichen der Zustimmung und Zugehörigkeit, etwa einen „Ich-bekenne-mich-zum-System“-Gruß. „Ich-gehöre-dazu“ und „Ich-bin-eine(r)-von-euch“ sind weitere Lesarten. Fehlen sie – nachlässig, vergesslich, bewußt, oder aus welchen Umständen und Motiven auch immer – ist das nicht einfach unbestimmt, sondern schon Opposition. Den Schein zu wahren wird Notwendigkeit, weil das Regime die Definitionsmacht über das Unbestimmte ausübt, und anschließend bei Bedarf die Sanktionsmacht. Es nutzt mindestens die Mechanismen der soziale Kontrolle, daß ein Einzelner nicht automatisch exponiert und separiert werden, sich nicht vor oder gegen die Gruppe stellen will. Was also soll vermittelt und an „Budo-Tugenden“ gelehrt werden, wenn z.B. Rituale gegenüber Sachen (z.B. Verbeugung vor Dojo, Tatami, Shomen, Buki, Bokken) obligatorisch sind? Was ist Wunsch, was ist (sozial- und psychotechnische Neben-) Wirkung? Wer nötigt wem eine Deutung auf? Wie passt sowas in die heutige Zeit, zu heutigen Erwachsenen, zu modernen Erziehungszielen und -idealen, zum Leben in der westlichen Moderne? Wie hört sich die Geschichte vom Budo an, wenn sie nicht von den Budoka selbst (für Budoka) erzählt wird, sondern z.B. in den Wissenschaften? Welche Geschichte, welche politische, ideologische, kulturelle, narrative Funktion hat(te) Bushido in den verschiedenen Phasen des modernen Japan? Natürlich soll man Sachen angemessen nutzen und schonend behandeln. Sofern es aber nicht sicherheitsrelevant ist, kann alles Weitere an ritualisierten Umgangsformen mit Sachen Option bleiben. Wer es mag, soll es machen, weil es für ihn persönlich einen Wert oder eine Bedeutung hat. Wer damit (als individueller Handlung) noch nicht glücklich werden kann, weil und solange es nicht alle anderen auch machen, hat, finde ich, ein Problem. Wer Budo zur – meist enger werdenden – Verhaltens-Norm macht, wer Normensysteme auf „Sachen“ türmt, erschafft damit i.d.R. auch die dann Un-Normierten, die sich plötzlich als Abweichler und Unangepasste wiederfinden – und die Frage, wie nun mit ihnen umzugehen sei. Budoka haben teils sehr unterschiedliche und auch langjährige Kampfkunst-Werdegänge. Es wird ihnen meines Erachtens nicht gerecht, sie in einem Dojo immer erst auf Null setzen, neu aufbauen und auf (Dojo-) Linie bringen zu wollen. Oder zu erwarten, daß sie das gefälligst selbst machen sollen oder gehen müssen („Nur eine leere Tonne kann gefüllt werden.“ Meistersprüche #23b). In privaten Schulen kann man sowas machen, und die erzielte Geschlossenheit, inkl. Ganzheit und Gemeinschaft, kann eine intensive Erfahrung sein. Hinter solchen Schul-Ansätzen stehen allerdings auch sehr spezielle und dezidierte weitere Vorstellungen: von Wegkünsten, (funktionellen) Ritualen und Symbolen, von (damit postulierten) Traditionslinien, die Authentizität, Kontinuität und Legitimität belegen sollen. In der Summe fragt sich allerdings irgendwann, wo hier eigentlich Abweichung (von was) vorliegt, welche Ansichten gefördert, welche Sehnsüchte befriedigt, welche *exklusiven* Orte und Beziehungen {„Exklusion durch exotistische Orientierung“; DB-2012, S.117} geschaffen werden. Öffentlich geförderte Vereine sind u.a. deshalb gemeinnützig, weil sie *inklusiv* auf Breitensport gerichtet sind. Trainingsplätze und Turnhallen sind profane Orte. Das Gegenmodell, durch im Budo eingeforderte Deutungen und Verhaltensweisen, sind sakrale Ritualstätten. Sind nun die sakralen Umstände im Profanen oder das profane Verhalten im Sakralen die Abweichung? Umgekehrt: wer sich profane Sachen und Umstände als bedeutsam suggerieren kann, das Dojo als “Augmented Reality”, dem sollte es eine leichte Übung sein, alle weiteren Ablenkungen, die abweichenden Ansichten, Sinneseindrücken und Verhaltensweisen innewohnen, ebenso ignorieren zu können; wie z.B. blaue Mattenfarbe, Zumba-Gewummer, Zuschauer und Gespräche, Etikette-Fehler. 5. Ich bin kein besonderer Freund spezieller Dojo- oder Kampfkunst-Modi, die aufwendig und rituell herzustellen sind. In meiner Vorstellung sollte Kampfkunst einer Alltagshaltung (sowohl mental als auch körperlich) entspringen können, in der man sich sowieso meistens befindet. Nur dann ist sie auch spontan verfügbar. Aber das ist nur eine persönliche Vorliebe und Meinung. Zwar geben Etikette in Kampfkünsten einen schützenden formalen Rahmen für kontrollierten Umgang mit (sonst eigentlich tabuisierter) Aggression und Gewalt. Auch erleichtern sie rein praktisch einen geregelten Trainingsablauf. Alltägliche Umgangsformen leisten das aber ebenfalls, vielleicht aufwendiger und weniger entlastend, und sind dafür auch außerhalb des Dojo zu gebrauchen. Auch dort gibt es kritische (und ungeübte) Situationen zu entschärfen, gilt es sich (spontan) wirksam mitzuteilen und ohne vorbereitete „Haltung“ zu reagieren. Mit Verzicht oder Unverfügbarkeit von durch Dojo-Etikette unterdrückte Ausdrucksmöglichkeiten wird das nicht einfacher. Exotische Etikette und ritualisierte Formen brauchen immer ein verstehendes Gegenüber. Die geschützte Regelhaftigkeit im Dojo mag ersehnt und teilweise nötig sein, sollte aber der Urteilsfähigkeit in Sachen Selbstbehauptung und -verteidigung nicht im Wege stehen. Es ist der Unterschied zwischen „Dinge richtig tun“ (Technik und Haltung, im Dojo mit Formen geübt) und „richtige Dinge tun“ (Entscheidung, Maß und Möglichkeit, im Alltag aus Erfahrung gelernt). Der Umfang der richtigen Dinge ist größer, ihre Möglichkeiten sind vielfältiger, und damit möglicherweise maßvoller. 6. Historisch und soziologisch halte ich die Budo-Normen, -Etikette und -Tugenden bekanntlich für wenig begründbar, bzw. sehr ambivalent oder „religiös“; und den pädagogischen Wert für überschätzt. Der Diskurs dieses Themas innerhalb der Kampfkünste scheint mir eher in sich geschlossen und einseitig. U.a. deshalb neige ich zu Sichtweisen anderer Quellen/Literatur, einfach als mögliches Gegengift zu dem, was einem die Meister und sehr eifrige Schüler so gern über die „großen“ Traditionen erzählen. Darin besteht, wenn man so will, auch (m)ein Interesse: bei Gegebenheit Widerstands- und Urteilsfähigkeit durch wohldosierten Widerspruch verbessern. Muß eine Übungshalle ein Dojo, ein Ritualort eines „Weges“ sein? Sind Rituale, auch als Ausdruck der kulturellen Herkunft, des Ursprungs, ein untrennbarer und wesentlicher Bestandteil einer Kampfkunst oder des Übens? Kann man nicht auch einfach nur die Kampfkunst üben? Muß sie immer besonders sein, sich unterscheiden und abgrenzen von anderen Kampfkünsten; und natürlich besonders vom Kampfsport? Sich deshalb zusätzlich mit Bedeutung, Formen und Symbolen aufladen, mit behaupteter Ganzheit und gefühlter Gemeinschaft? Unterscheidung und Abgrenzung, Einheit und vergewisserte Besonderheit, Forderung nach bis Zwang zur Anpassung waren schon immer (Neben-) Wirkung von Normen und Ritualen. Sie schaffen und definieren Räume der (Nicht-) Zugehörigkeit, der Eingeweihten, der Erkennungszeichen, der Bescheid- und Besserwisser, die andere belehren („unterweisen“) können, bis hin zu Initiations- und Kollektivriten. Banzai! Wenn sich Bushido-Geschichte zweimal wiederholt, als Tragödie und als Farce, war dann die Standesabgrenzung und -überhöhung der Samuraikaste der Ursprung, war die ideologische Ausweitung auf alle Japaner und die ganze Nation (statt Stand) die Tragödie, und ist das eskapistisch-fiktionale Rollenspiel in Kampfkünsten die Farce? In Ost und West romantisches Residuum und kompensierende Form des Umgangs mit Entfremdungen und Entsagungen im Zuge der Moderne? Einst erfundene Traditionen heute als Sehnsuchtsorte der Beständigkeit, als Gegenentwürfe zur Gegenwart: ahistorisch, kontextfrei, im Kern unwandelbar, wenigstens ethisch unangreifbar, gemeinnützig, und natürlich ganzheitlich? Ein Gruppe kann für sich Regeln beschließen, in welchem Modus auch immer, und sich damit eine Welt schaffen, einen Regelbereich, der nur ihr ganz allein gehört, einschließlich der Zugangs- und Zugehörigkeitsregeln. Es ist dann eine “Gated Community”, deren Wälle die Regeln sind. Für den Eintritt, den Zugang, braucht es formelhafte Losungsworte und ritualisierte Bekenner-Gesten. Innen ist das Selbstempfinden „exklusiv“ im Sinne besonderer Qualität (des eigenen Seins und Tuns). Die Regeln sind für Kenner ein Distinktionsmerkmal. Außen ist die Wahrnehmung der Zugangshürde „exklusiv“ im Sinne besonderer Ausschließlichkeit, um so mehr, je „exotischer“ die Anforderungen sind, je verschiedenartiger die geforderte Form im Gegensatz zur Außenwelt. Im Prinzip sind das Merkmale jeder Organisation und aus Innensicht legitim. Aber auch die Außenwelt gibt Vorgaben, welche Organisationsarten sie grundsätzlich für legitim hält, wieviel Autonomie, Privatheit und Selbstabgrenzung sie für zulässig hält. Ich frage bewußt provokativ: Soll in einem öffentlich geförderten Verein, in einer Freizeitwelt, „ranziges Budo-Zeugs“ als Regelbasis, als Überbau für Kampfkünste – inhaltlich und funktionell ambivalent, teils auch ideologisch bzw. theologisch – wertendes Kriterium sein, ob jemand zum Kreis der Übenden, der Kampfkünstler, gehören kann/darf? Budo hat(te) Ursprünge, Geschichte(n), Zielsetzungen und Wirkungen politischer und religiöser Art. Als pädagogisches Konzept ist es damit weltanschaulich geprägt, wenn auch uneindeutig. Mögliche Wirkungen sollten selbst bei idealistischer Interpretation nicht einfach negiert oder ignoriert werden. Ideal und Wirkung sind nicht zwingend übereinstimmend. Budo kann auch eine „gut gemeinte“ regressive Antwort auf Zumutungen der Moderne sein, ein überholtes (oder kulturell deplaziertes) Entwicklungs- und Erziehungsmodell. In einem pluralistischen Umfeld hat es einerseits trotzdem tolerierte private Räume der Entfaltung, steht andererseits aber im öffentlichen Raum nicht außerhalb von Skepsis, Diskurs und Kritik. Budo ist „Meinung“, und Bestandsschutz für Meinungen gibt es nur in sich abgrenzenden isolierten Filterblasen und Echokammern. Auf mentaler und sozialer Ebene, an der „Wirkung“, muß Budo sich jedenfalls analysieren, messen, beurteilen, und schließlich auch werten lassen. 7. Praktisch gesehen kann ich mich an bestehende Strukturen und (in Maßen) an etablierte Rituale ganz gut anpassen. Freizeitwelten sind nicht unbedingt der Ort für große Aufstände und Revolutionen, sie gehen aber durch ein bißchen Abweichung auch nicht gleich unter. Zur Einordnung: Ich (Wir) war(en) im sog. Psycho-Dojo – offiziell eigentlich: Aikido Uni-Gruppe München – natürlich in einer besonders begünstigten, freien und unabhängigen Situation. Wir hatten nie einen Druck oder zeitlichen Rahmen, bestimmte Ziele oder Vorgaben erreichen, oder Formen und Normen, einen Kanon, erfüllen zu müssen. Nichts musste geliefert werden, von niemandem, und niemand musste erzogen werden. Es hatte trotzdem nichts mit Beliebigkeit zu tun. Interesse und Motivation waren vorausgesetzt und vorhanden, jeder mußte das mit sich selbst ausmachen, niemand sich rechtfertigen. Ich habe mich nie als Animateur, Kontrolleur oder Motivator verstanden. Mit der (wechselnden) Vielfalt von Teilnehmern und Gästen, mit einem breiten Spektrum individueller Verschiedenartigkeit konnten wir umgehen. Was natürlich auch an den selbstbewußten Leuten lag. Für „Eigenarten“ erwachsener Menschen setze ich schlicht gute Gründe als gegeben voraus, die ich nicht abfragen muß. In unserer Erfahrung hat das alles bestens und sehr entspannt funktioniert, über 20 Jahre lang. Allen war (und ist natürlich noch heute) bewußt, daß es „nur“ um Freizeit geht, um ein bewußt im positiven Sinne verstandenes Freizeit-Aikido. Irritationen und Konflikte konnten da nicht hochkochen, niemand musste sein Ego oder einen Ehrgeiz herausstellen, niemand hat seinem Aikido-Vergnügen eine künstliche besondere Bedeutung gegeben, es irgendwie überhöht. Neugier und Selbständigkeit waren Alltag. Ich mußte keine besondere Kontrolle oder Autorität ausüben, unser Umgang war immer auf Augenhöhe und vergnüglich. Vereinsorganisation, Prüfungen, Graduierungen usw. waren nie vorhanden, nie gewünscht, nie gefordert. In der Umgebung konnte ich mich frei und unbeschwert zum Trainer entwickeln. Und das war eben ganz abseits der üblichen Werdegänge, der Meister- und Verbandsstrukturen. Eine maßvolle, wohlwollende Haltung des „Gewähren und (sich) Probieren lassen“ wirkt in beide Richtungen, des Lernens und des Lehrens. *Übung* war beides; und wichtig dabei: ohne etwas in bestimmter Zeit und/oder Könnerschaft erreichen zu müssen, und solange bei allen Eigenarten und Abweichungen das Üben-Können letztlich möglich blieb. Letztes ist ein schwieriges Kriterium, ist abhängig von Wert- und Zielvorstellungen, die „Übung“ haben und umfassen soll. Wie individuell oder kollektiv Übung jeweils sein kann, soll oder muß. Wie das Übungs-Umfeld passen muß; nach Innen zur Aikido-Übung und nach Außen zur gesellschaftlichen Umwelt und Wirklichkeit, zum sozialen Raum. Deshalb sollte auch das Gegen-Kriterium, n.m.M. noch entscheidender, überlegt sein: ist durch Eigenarten und Abweichungen das Üben-Können *wirklich* beeinträchtigt, verhindert, unmöglich geworden? Oder ist eine gefühlte Unmöglichkeit nur anderen anhaftenden Vorstellungen von Möglich- und Notwendigkeit geschuldet? Von Kontroll- und Prägebedürfnis, von Gestaltungswillen (der Lehrenden)? Von Unterschätzung (der Lernenden)? Von prägenden Geschichten (der „Traditionen“ usw.) und Erfahrungen (noch als Lernender)? Wenn ich folglich von meinen Erfahrungen rede/schreibe, fließen meine dabei entwickelten Standpunkte zu manchem „Budo-Zeugs“ mit ein. Die sind im Laufe der Zeit mit der Frage, was da eigentlich mit dem Budo und dem ganzen japanischen Über- und Unterbau vermittelt und transportiert werden soll, recht skeptisch bis kritisch geworden. Weitere Fragen habe ich schon in den vorigen Absätzen formuliert. Eine „Westliche Wegkunst“ ist Skepsis, als Methode (Weg) und Organon (Werkzeug). Ich bin mir bewußt, daß ich damit inhaltlich stark von vielen Standards und Gewohnheiten abweiche und mit meinen Antworten Außenseiter-Positionen vertrete. Das mag offensiv und provozierend wirken. Es ist auch klar, daß die Erfahrungen und Ansätze nur sehr bedingt auf andere (Aikido-Trainings-) Situationen übertragbar sind, daß Vereine ein anderes Umfeld mit anderen Anforderungen sind. Die Erfahrungen sind also keine Forderungen. Andererseits glaube ich, daß sich damit selbstverständlich geglaubte Ansichten des Aikido zumindest mal überdenken, vielleicht verwerfen, oder vielleicht neu und besser begründen lassen. Toleranz, im richtigen Maß, schafft Platz für Vielfalt (Puralität) in einem erweiterten Verhaltensraum, in dem Eigenarten, im richtigen Maß, keine Störung sind. Was ist also das richtige Maß? Eine Übung in Urteilsfähigkeit. In diesem Sinne ein Running-Gag-Spruch aus der Psychiatrie, vom Patienten- zum Meisterspruch geronnen: „Möge die Übung gelingen!“ StUs/2017 ======================================================================= ======================================================================= LITERATUR {DB-2012} David Bender: Sport, Kunst oder Spiritualität? Eine ethnografische Fallstudie zur Rezeption japanischer budô-Disziplinen in Deutschland, [Dissertation 2011] Münster et al.: Waxmann Verlag ¹2012. (Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde, Band 6; 380 Seiten) ISBN 978-3-8309-2698-6. {OB-2016} Oleg Benesch: Inventing the Way of the Samurai. Nationalism, Internationalism, and Bushido in Modern Japan. Oxford University Press ¹2014 (The Past & Present Book Series), ISBN 978-0-19-870662-5 (Hardback, 2014, 304 pages), 978-0-19-875425-1 (Paperback, 2016, viii+284 pages). Inventing the Way of the Samurai examines the development of the ‘way of the samurai’ – bushido – which is popularly viewed as a defining element of the Japanese national character and even the ‘soul of Japan’. Rather than a continuation of ancient traditions, however, bushido developed from a search for identity during Japan’s modernization in the late nineteenth century. The former samurai class were widely viewed as a relic of a bygone age in the 1880s, and the first significant discussions of bushido at the end of the decade were strongly influenced by contemporary European ideals of gentlemen and chivalry. At the same time, Japanese thinkers increasingly looked to their own traditions in search of sources of national identity, and this process accelerated as national confidence grew with military victories over China and Russia. Inventing the Way of the Samurai considers the people, events, and writings that drove the rapid growth of bushido, which came to emphasize martial virtues and absolute loyalty to the emperor. In the early twentieth century, bushido became a core subject in civilian and military education, and was a key ideological pillar supporting the imperial state until its collapse in 1945. The close identification of bushido with Japanese militarism meant that it was rejected immediately after the war, but different interpretations of bushido were soon revived by both Japanese and foreign commentators seeking to explain Japan’s past, present, and future. This volume further explores the factors behind the resurgence of bushido, which has proven resilient through 130 years of dramatic social, political, and cultural change. {GB-2005} Gerhard Bierwirth (*1943): Bushidô. Der Weg des Kriegers ist ambivalent. Ein Essay. München : Iudicium Verlag 2005 (Iaponia Insula, Studien zu Kultur und Gesellschaft Japans, Bd.15, 154 Seiten), ISBN 978-3-89129-824-4. Bushidô, der Weg des Kriegers, polarisiert. Gegner wie Anhänger sind seit jeher mit missionarischem Eifer bei der Sache. Ist Bushidô eine Art Religion? Zumindest ein Religionsersatz, aber auch Theater und Fiktion. Ausgehend von der „Erfindung“ dieses Religionsersatzes in der Meiji-Zeit, werden die vielfältigen und widersprüchlichen Aspekte der „Samurai-Erzählung“ in Japan, aber auch im Ausland analysiert. Dabei erweist sich der pseudo-religiöse, theatralische und fiktive Bushidô, jenseits aller Romantisierung und aller Ideologiekritik, als ein wichtiger Katalysator für die japanische Suche nach Individualität und Identität. Eine neue, dekonstruktivistische Interpretation der „Samurai-Erzählung“, vor allem des berüchtigten „Hagakure“ aus dem 18. Jahrhundert, bisher vor allem bekannt als Lieblingsfibel von Kamikaze-Piloten, Managern und Kampfkunstanhängern, vermittelt überraschende Einsichten – „Japan erklären“ kann und will sie nicht. {GB-2009} Gerhard Bierwirth (*1943): Makoto und Aufrichtigkeit. Eine Begriffs- und Diskursgeschichte, München : Iudicium Verlag 2009 (Iaponia Insula, Studien zu Kultur und Gesellschaft Japans, Bd.19, 361 Seiten), ISBN 978-3-89129-828-2. INHALT Wittgensteins „Leiter“ und Morris’ „Samurai“ Der europäische Diskurs der Aufrichtigkeit Auf der Suche nach Aufrichtigkeit – Die o-yatoi der Meiji-Zeit Hobsbawm auf den Schultern von Chamberlain Übersetzungen im politisch-moralischen Diskurs der Meiji-Zeit Die Übersetzung der Aufrichtigkeit in Nakamuras „Saikoku risshi hen“ Von der Übersetzung zur Umschrift Makoto im bürgerlichen Diskurs des 18. Jahrhunderts Unmittelbarkeit und Vermittlung: Makoto in der Literatur um 1700 Ein kurzer Nachruf: Was von makoto übrig blieb Anhang: Ergänzende Erläuterungen Literaturverzeichnis Index japanischer Namen und Begriffe Aufrichtigkeit ist eine höchst zweifelhafte Angelegenheit. Sie soll Vertrauen schaffen und macht doch unverträglich und selbstgerecht. Sie soll Gemeinschaft fördern und führt doch zu Isolation und Diskriminierung. Dass sie außerdem keine Tugend ist, die überall und zu allen Zeiten galt, zeigt der Aufrichtigkeitsdiskurs in Europa, der in der Renaissance begann und mit der Romantik endete. Gleichwohl wird makoto häufig mit diesem widersprüchlichen Begriff übersetzt oder in diesem Sinne verwendet. Dabei hat das makoto des Neo-Konfuzianismus, des Shintô, der Samurai-Ethik, der haikai-Poetiken und des bürgerlichen Diskurses selbst viele widersprüchliche Bedeutungsschichten. Anstatt zu fragen „Wie aufrichtig sind die Japaner?“, rekonstruiert das Buch diese Bedeutungsschichten und zeigt, wie westliche Entwicklungshelfer (o-yatoi) und westliche Texte im Japan der Meiji-Zeit eine Überkronung von makoto durch den Aufrichtigkeitsbegriff befördert haben. Es macht auch deutlich, dass diese Überkronung das Ergebnis eines Kampfes um die Deutungshoheit von Begriffen und Werten in Japan selbst war und dass dabei auch traditionelle Lesungen von makoto verändert wurden. Das so begriffs- und diskursgeschichtlich rekonstruierte kulturelle Gebilde makoto mit seinen west-östlichen, bürgerlich-adligen und pragmatisch-idealistischen Komponenten erweist sich damit als anschauliches Fallbeispiel für die These kultureller Hybridität und das Paradigma der Transkulturalität. {JB-2006} Julian Braun (*1972): Der ‚gemeinsame Weg von Schwert und Pinsel‘. Philosophie und Ethik japanischer Kriegskunst der Tokugawa-Zeit (1603-1868). Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades ‚Doktor der Philosophie‘ an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Eberhard Karls-Universität, Tübingen 2006. (395 Seiten) Die Arbeit stellt die philosophischen (dô), ethischen (bun) und kämpferischen (bu) Ideale der Krieger der Tokugawa-Zeit dar. Dies geschieht anhand der Untersuchung der wichtigsten begrifflichen Konzepte (mushin, isshin, ji-ri u.a.), welche dem Taoismus, Konfuzianismus und Buddhismus entlehnt sind. Dabei werden sowohl die Herkunft der Konzepte und ihre Bedeutung im spezifischen Kontext des Themas, als auch die Bezüge der drei Bereiche untereinander herausgearbeitet. Der Anhang enthält die Übersetzung dreier repräsentativer Quellentexte jener Epoche (Bansenshûkai – Shôshin, Heihô okugi koroku – Onmyô heigen; Ittôsai-sensei kenpôsho). {JB-2016} Julian Braun (*1972): Bunbu-ryôdô. Philosophie und Ethik japanischer Kriegskunst der Tokugawa-Zeit (1603-1868), Frankfurt am Main : Angkor Verlag 2016. ISBN 978-3936018912. (200 Seiten) „Philosophie und Ethik japanischer Kriegskunst der Tokugawa-Zeit“ untersucht den Zusammenschluss geistiger, körperlicher und ethischer Aspekte zu einer eigenständigen Strömung, die das Leitbild der letzten großen, vormodernen Epoche Japans war. Der dabei geforderte, hohe physische und psychische Anspruch hat die Umbrüche der Modernisierung Japans jedoch überlebt und entscheidend zur Etablierung weltweit verbreiteter Kampfkünste wie dem Aikido, Kyudo, Kendo oder Karate beigetragen. Um diese tatsächlich zu verstehen, ist eine Auseinandersetzung mit dem hier dargelegten „gemeinsamen Weg von Pinsel und Schwert“ empfehlenswert. {CG-1985} Carol Gluck (*1941): Japan’s Modern Myths: Ideology in the Late Meiji Period. (Studies of the East Asian Institute, Columbia University) Princeton, NJ : Princeton University Press ¹1985 (Paperback Reprint 1987, 424 pages) EAN (ISBN-13): 978-0-691-00812-7 Ideology played a momentous role in modern Japanese history. Not only did the elite of imperial Japan (1890–1945) work hard to influence the people to “yield as the grasses before the wind,” but historians of modern Japan later identified these efforts as one of the underlying pathologies of World War II. Available for the first time in paperback, this study examines how this ideology evolved. Carol Gluck argues that the process of formulating and communicating new national values was less consistent than is usually supposed. By immersing the reader in the talk and thought of the late Meiji period, Professor Gluck recreates the diversity of ideological discourse experienced by Japanese of the time. The result is a new interpretation of the views of politics and the nation in imperial Japan. {IM-1887} Ichizô Matsui (Verf.), Hartmut Lamparth (Hrsg./Übers.): Nippon reishiki Ogasawara genryû yôryaku. Japanische Etikette : ein Handbuch aus dem Jahre 1887, Mitteilungen der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens (Sept.1998) ISBN (ISBN-10): 3-928463-65-9 EAN (ISBN-13): 978-3-928463-65-2 PDF-Auszug {BAV-1999} Brian (Daizen) A. Victoria: Zen, Nationalismus und Krieg. Eine unheimliche Allianz, engl. Orig. Zen At War 1997, dt. Ausgabe um zwei Kapitel erweitert, Berlin : Theseus Verlag 1999. (400 Seiten) ISBN (ISBN-10): 3-89620-132-8 EAN (ISBN-13): 978-3-89620-132-4 {SV-1998} Stephen Vlastos (Ed., *1943): Mirror of Modernity: Invented Traditions of Modern Japan. (Twentieth-Century Japan: The Emergence of a World Power; Book 9) Berkeley : University of California Press 1998. (xvii+328 pages) EAN (ISBN-13): 978-0-520-20637-3 This collection of essays challenges the notion that Japan’s present cultural identity is the simple legacy of its pre-modern and insular past. Building on the historical analysis of British traditions, “The Invention of Tradition”, 16 American and Japanese scholars examine “age-old” Japanese cultural practices, ranging from judo to labour management, and show these to be largely creations of the modern era. CONTENTS List of Illustrations Acknowledgments Note on Transliteration 1. Tradition: Past/Present Culture and Modern Japanese History. By Stephen Vlastos 2. The Invention of Japanese-Style Labor Management. By Andrew Gordon 3. The Invention of Wa and the Transformation of the Image of Prince Shotoku in Modern Japan. By Ito Kimio 4. Weak Legal Consciousness as Invented Tradition. By Frank K. Upham 5. The Japanese Village: Imagined, Real, Contested. By Irwin Scheiner 6. Agrarianism Without Tradition: The Radical Critique of Prewar Japanese Modernity. By Stephen Vlastos 7. Colonizing Manchuria: The Making of an Imperial Myth. By Louise Young 8. It Takes a Village: Internationalization and Nostalgia in Postwar Japan. By Jennifer Robertson 9. Chiho: Yanagita Kunio’s “Japan”. By Hashimoto Mitsuru 10. Figuring the Folk: History, Poetics, and Representation. By H. D. Harootunian 11. The Invention of the Martial Arts: Kano Jigoro and Kodokan Judo. By Inoue Shun 12. The Invention of the Yokozuna and the Championship System, Or, Futahaguro’s Revenge. By Lee A. Thompson 13. At Home in the Meiji Period: Inventing Japanese Domesticity. By Jordan Sand 14. The Cafe Waitress Serving Modern Japan. By Miriam Silverberg 15. Constructing Shinano: The Invention of a Neo-Traditional Region. By Karen Wigen 16. “Doubly Cruel”: Marxism and the Presence of the Past in Japanese Capitalism. By Andrew E. Barshay 17. The Invention of Edo. By Carol Gluck 18. Afterword: Revisiting the Tradition/Modernity Binary. By Dipesh Chakrabarty Glossary Selected Bibliography Contributors Index ======================================================================= ======================================================================= WEB-RESSOURCEN {BHC-1912} Basil Hall Chamberlain (1850–1935): “The Invention of a New Religion.” 1912. Inc. within 1927 ed. of “Things Japanese”. {KFF-1994} Karl F. Friday (*1957): “Bushidó or Bull? A Medieval Historian’s Perspective on the Pacific War & the Japanese Military Tradition.” 1st in: The History Teacher 27.3 (1994), pp.339–349. {KFF-2001} Karl F. Friday (*1957): “The Historical Foundations of Bushido.” 2001. {YH-1988} Yoshihisa Hagiwara: „Über Begriff und Funktion der ‚kokutai‘-Ideologie. Der Mythos des japanischen Kaisertums als Herrschaftsideologie vor dem zweiten Weltkrieg.“ 1988. {GCH3-1982} G. Cameron Hurst III (1941–2016): “Samurai on Wall Street: Miyamoto Musashi and the Search for Success.” 1st in: UFSI Reports #44 (1982). {GCH3-1990} G. Cameron Hurst III (1941–2016): “Death, Honor and Loyalty: The Bushidó Ideal.” 1st in: Philosophy East & West 40.4 (1990), pp.511–527. {WRP-2008} William R. Patterson: “Bushido’s Role in the Growth of Pre-World-War-II Japanese Nationalism.” 1st in: Journal of Asian Martial Arts 17.3 (2008), pp. 9–21; Digital Edition 2010 (15 pages). ======================================================================= „Frage nicht, wie du andere motivieren kannst! Frage, wie du die Bedingungen schaffen kannst, in denen andere sich selbst motivieren werden!“ Ed Deci [WP:Selbstbestimmungstheorie] ======================================================================= =======================================================================